Die Menschenwürde im Mittelpunkt – für einen rechtsstaatlichen Neubeginn der Europäischen Asylpolitik

Gemeinsam mit Katrin Göring-Eckhardt, Claudia Roth, Annalena Baerbock, Ska Keller, Erik Marquardt fordert Luise in einem Autor*innenpapier einen rechtsstaatlichen Neubeginn der Europäischen Asylpolitik, das die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt.

Der Brand von Moria war eine humanitäre Katastrophe mit Ansage. Moria war seit langem ein Ort, an dem die Menschenwürde keine Achtung und keinen Schutz fand. Hilfsorganisationen wiesen immer wieder auf die unhaltbaren Zustände in dem Lager hin, das teilweise bis zu siebenfach überbelegt war. Monatelange pandemiebedingte Ausgangsbeschränkungen verschärften die ohnehin angespannte Situation dramatisch. Durch das Feuer sind über 12.000 Menschen obdachlos geworden, darunter nach Angaben des UNHCR 4.000 Kinder mit ihren Familien, die nun ihr letztes Hab und Gut verloren haben und seit nunmehr einer Woche unter unwürdigsten und gefährlichen Bedingungen auf der Straße leben müssen. Ihre Versorgung verläuft bis jetzt schleppend. Hilfsorganisationen erhalten teilweise keinen Zugang zu den Betroffenen. Es fehlt an ausreichend Wasser, Nahrungsmitteln und einer adäquaten medizinischen Versorgung, insbesondere auch an Schutz gegen eine weitere Verbreitung von Covid-19. Es fehlt auch an Schutz und Würde sowie an allem, was Kinder zum Leben brauchen: Orte zum Spielen, seit Jahren gibt es in Moria keine Angebote für Schulunterricht, selbst das wenige Spielzeug ist den Flammen zum Opfer gefallen.

Nothilfe für die Geflüchteten von Moria

In dieser akuten Krise braucht es schnelle und unbürokratische Hilfen für die Betroffenen. Zu warten, bis eine Europäische Lösung gefunden ist, bedeutet, Menschen in einer akuten Notlage Hilfe zu verweigern. Die Geflüchteten von Moria brauchen in ihrer dramatischen Situation jetzt eine Lösung.

Deswegen fordern wir:

  • Alle Geflüchteten aus Moria müssen jetzt zügig von der Insel Lesbos evakuiert und in europäische Länder verteilt werden. Die Bundesregierung muss ihrer besonderen Verantwortung innerhalb der EU-Ratspräsidentschaft gerecht werden und als Vorbild für eine humane und geordnete Asylpolitik vorangehen. Das bisherige deutsche Angebot zur Aufnahme von Menschen ist völlig ungenügend und liegt weit unter dem, was Bundesländer und Kommunen an Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen können. Wir fordern die Bundesregierung in ihrer Rolle als EU-Ratspräsidentschaft auf, zwischen den hilfsbereiten Ländern sicherzustellen, dass alle der über 12.000 Geflüchteten aus Moria sowie perspektivisch auch die Geflüchteten von den anderen griechischen Inseln aufgenommen werden und niemand zurückgelassen wird. Artikel 17 der Dublin-III-Verordnung bietet die rechtliche Möglichkeit eines Selbsteintritts für eine schnelle Ad-hoc-Übernahme. Darüber hinaus müssen die vielen Menschen, deren Anspruch auf Familienzusammenführung in Deutschland bereits festgestellt wurde, schnellstmöglich einreisen dürfen.
  • Bundesinnenminister Seehofer muss endlich die Blockade gegen die hohe Aufnahmebereitschaft aus den Bundesländern und Kommunen aufgeben. Diese kennen ihre Strukturen vor Ort besonders gut und können ihre Kapazitäten etwa bei Kitaplätzen, Wohnraum oder auch die soziale Infrastruktur am besten einschätzen. Zusätzlich zu einem Bundesaufnahmeprogramm muss Minister Seehofer den Ländern und Kommunen, die bereit sind zu handeln, dies ermöglichen. Um Rechtssicherheit zu schaffen, fordern wir darüber hinaus eine Änderung von § 23 Absatz 1 Aufenthaltsgesetz, um den Bundesländern die eigenständige Aufnahme auch innerhalb der EU zu ermöglichen.
  • Für die Zeit bis zu einer entsprechenden Verteilung sollten Geflüchtete in Sicherheit und unter Beachtung des derzeit gebotenen Infektionsschutzes menschenwürdig untergebracht werden. Die Europäische Union könnte zu diesem Zweck kurzfristig ungenutzte Fähren mit ausreichend Kabinen oder auch andere adäquate Passagierschiffe anmieten. Diese Unterbringung muss unbedingt mit einer schnellen Aufnahme einhergehen und darf nicht zu einem neuen dauerhaften Provisorium werden.

Den Wiederaufbau geschlossener Lager lehnen wir ab, denn dort würde sich die unwürdige Situation von Moria nur wiederholen.

  • Die Bundesregierung muss sich gegenüber der griechischen Regierung für einen menschenrechtskonformen Umgang mit Geflüchteten einsetzen. Die griechische Regierung fordert zurecht eine echte und auf Dauer angelegte Unterstützung durch die europäische Union. Sie muss aber gleichzeitig dafür sorgen, dass an den EU-Außengrenzen menschenrechtliche und rechtsstaatliche Prinzipien eingehalten werden. Illegale Pushbacks sowie das Aussetzen des Asylrechts durch die griechische Regierung dürfen nicht toleriert werden. Die Bundesregierung muss im Rahmen der Ratspräsidentschaft Griechenland dazu mahnen, die Rechte der Geflüchteten zu wahren. Dazu gehört, dass Geflüchtete gemäß ihres Schutzstatus ihre Rechte wahrnehmen können, etwa indem sie eine Sozialversicherungsnummer erhalten, um sich eine Arbeit zu suchen. Denn auch die zahlreichen anerkannten Flüchtlinge erhalten in Griechenland derzeit weder irgendwelche Hilfen noch die Möglichkeit, legal zu arbeiten. Außerdem muss die Bundesregierung klar machen, dass es vollkommen inakzeptabel ist, wenn griechische Behörden die Arbeit von Hilfsorganisationen behindern. Auch Einschränkungen gegenüber Journalist*innen in der Berichterstattung über die Ereignisse von Moria dürfen nicht hingenommen werden. Die katastrophale Situation rund um Moria hat die gesamte Insel unter extreme Spannung gesetzt. Immer wieder kommt es zu Straßensperren durch Bürgerwehren und rechtsextreme Angriffe auf Geflüchtete. Aber auch viele der hilfsbereiten und selbstverständlich friedlichen Bewohner*innen der Insel fühlen sich zunehmend überfordert und mit der sehr schwierigen Situation allein gelassen. Die griechische Regierung muss diese Konflikte dringend entschärfen und hierbei jede nötige Form der Unterstützung erhalten.

Für einen rechtstaatlichen Neubeginn der Europäischen Asylpolitik

Moria ist kein singuläres Problem, sondern ein Sinnbild der gescheiterten Asylpolitik der Europäischen Union. Auch die Bedingungen der Lager auf den anderen griechischen Inseln Chios, Samos, Leros und Kos sind katastrophal. Von der Europäischen Union ursprünglich zur schnellen Weiterverteilung konzipiert, wurden sie durch die EU-Türkei-Vereinbarung für die Mehrheit der Geflüchteten zur Sackgasse. Kaum jemand konnte sie Richtung griechisches Festland oder in andere EU-Staaten verlassen. Statt der im Jahr 2017 zugesagten Aufnahme von 160.000 Menschen aus Griechenland und Italien wurden nur knapp 35.000 Menschen tatsächlich in andere EU-Staaten umverteilt. Die gegenwärtige Überlastung Griechenlands ist auch eine Folge nicht eingehaltener Zusagen der Europäischen Union. Die Regierungen in Rom und Athen fühlen sich seit Jahren vom Rest Europas mit den Herausforderungen der Bootsflüchtlinge allein gelassen. Die verbrannten Trümmer von Moria sind die Trümmer eines Systems, das wir so nie wieder aufbauen dürfen. Die EU muss an ihren Außengrenzen Rechtsstaatlichkeit und Humanität für Schutz und Perspektive suchende Menschen garantieren. Dafür braucht es nachhaltige und verlässliche Strukturen in der europäischen Asylpolitik.


Deswegen fordern wir:

  • Asylsuchende in offenen und menschenwürdig gestalteten Registrierungszentren, die europäische Einrichtungen sind, unterzubringen. Dort werden eventuell vorhandene besondere Bedarfe festgestellt, Gesundheitschecks gemacht und Sicherheitsprüfungen vorgenommen. Dann werden die Asylsuchenden innerhalb kurzer Zeit umverteilt und die Asylverfahren finden im Aufnahmemitgliedstaat statt. Es sind weiterhin die Mitgliedstaaten und ihre nationalen Behörden, die für die Durchführung von Asylverfahren verantwortlich sein müssen. Eine inhaltliche Vorprüfung von Asylverfahren oder die Durchführung der gesamten Asylverfahren an den Außengrenzen lehnen wir genauso ab wie Schnellverfahren für Menschen aus bestimmten Herkunftsländern. Ansonsten drohen Zustände wie bisher und Menschen sitzen monate- oder auch jahrelang in Lagern fest. Bei der weiteren Verteilung sind soziale Bezugspunkte wie Familienbindungen der Asylsuchenden, Sprachkenntnisse, Qualifikationen, frühere Aufenthalte und Arbeitsbeziehungen zu beachten,
  • finanzielle Anreize für die Mitgliedstaaten, die sich freiwillig an der Aufnahme von Schutzsuchenden beteiligen. Wir fordern, dass ein europäischer Integrationsfonds geschaffen wird, der direkt europäische Regionen und Kommunen bei der Unterbringung, sozialen Integration, medizinischen Versorgung und Bildung von Geflüchteten unterstützt und diese dazu befähigt, Geflüchtete in eigener Verantwortung aufzunehmen. Insbesondere aufnahmebereite Kommunen und Regionen könnten so unabhängig von ihrer jeweiligen nationalen Regierung unterstützt werden. Die Bundesregierung muss sich im Rahmen der laufenden EU-Haushaltsverhandlungen für eine bessere Finanzierung in den Bereichen Flucht und Migration einsetzen,
  • einen verbindlichen, alle EU-Mitgliedstaaten umfassenden Verteilmechanismus, wenn nicht  genügend freiwillige Aufnahmeplätze zur Verfügung stehen. Kriterien für den Verteilschlüssel sind die Bevölkerungszahl und das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die Verwendung von EU-Mitteln muss stets an die Einhaltung von Grund- und Menschenrechtsstandards gebunden sein. Wenn die freiwilligen Kapazitäten erschöpft sind und weitere Plätze für Asylsuchende benötigt werden sollten sich in einem weiteren Schritt alle Mitgliedsstaaten solidarisch beteiligen. Mitgliedstaaten, die sich grundsätzlich gegen die Aufnahme von Schutzsuchenden sperren, sollen stattdessen einen angemessenen finanziellen Beitrag leisten und sich so an einem funktionierenden Europäischen Asylsystem beteiligen. Der finanzielle Beitrag muss mindestens die tatsächlichen Kosten für die Aufnahme von Geflüchteten entsprechen und denjenigen Mitgliedsstaaten zugutekommen, die bereit sind, weitere Schutzsuchende aufzunehmen.
  • die enge Einbindung der EU-Grundrechte-Agentur in der Ankunftsphase durch die Übernahme einer Monitoring-Aufgabe. Sie wird das Verfahren überwachen – auch mit unangekündigten Ortsbesichtigungen – und regelmäßig der Kommission, dem Rat der EU und dem Europäischen Parlament über mögliche Missstände berichten,
  • dass Rückführungen – unter dem Vorrang der Förderung freiwilliger Rückkehr – durch die Mitgliedstaaten erfolgen. Die EU-Grundrechteagentur soll die Einhaltung von Standards in den jeweiligen Mitgliedstaaten überwachen. Verstöße gegen geltendes EU- und Völkerrecht müssen von der EU-Kommission sanktioniert werden,
  • die Schaffung von deutlich mehr legalen Zugangswegen durch einen Ausbau von EU-Resettlement-Plätzen. Aufgrund der Corona-Pandemie im Jahr 2020 ggf. nicht ausgeschöpfte Kontingente sollten in das kommende Jahr übertragen werden,
  • dass die Bundesregierung sich gegenüber der EU-Kommission und den europäischen Ratsgremien für eine Verteilung von aus Seenot geretteten Menschen einsetzt und eine europäisch koordinierte und finanzierte zivile Seenotrettung auf den Weg bringt.