Aus der Tragödie von Lampedusa lernen

Bundesparteitag beschließt Antrag zur europäischen und deutschen Asylpolitik

 36. Bundesdelegiertenkonferenz

Berlin, 18.-20. Oktober 2013

Vorläufiger Beschluss

Konsequenzen aus Lampedusa ziehen – in Europa und Deutschland

Der Tod mehrerer hundert Menschen vor Lampedusa hat erneut die unmenschliche europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik vor Augen geführt. In den letzten zwei Jahrzehnten sind nach Schätzungen mehr als 19.000 Menschen bei dem Versuch gestorben, nach Europa zu gelangen. Die Abschottungspolitik der EU zwingt Menschen, die auf der Flucht oder auf der Suche nach einem würdigen Leben sind, sich in Lebensgefahr zu begeben. Auch nach der Katastrophe von Lampedusa sind die Mitgliedsstaaten, allen voran Deutschland mit Innenminister Friedrich, nicht zu einer grundlegenden Neuausrichtung der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik bereit. Sie setzen auf Abwehr statt auf Schutz und nehmen dabei menschliche Tragödien und Gewalt billigend in Kauf.

Wir GRÜNE wenden uns in jeglicher Hinsicht gegen die Menschenrechtsverletzungen an den europäischen Außengrenzen. Der Zugang zu einem fairen Asylverfahren ist Grundlage für das Menschenrecht auf Asyl, dem die Europäische Union und die Mitgliedstaaten verpflichtet sind. Flüchtlingsschutz und die Rettung von Leben müssen in Europa oberste Priorität haben – Europa darf sich nicht vor dem Leid von Menschen abschotten! Wir GRÜNE fordern, dass Europa seiner Pflicht, Flüchtlingen zu helfen statt sie abzuweisen, endlich voll und ganz nachkommt!

Mehr legale Zugangsmöglichkeiten zur EU schaffen

Durch die europäische Abschottungspolitik werden Flüchtlinge gezwungen, immer gefährlichere Routen zu nehmen. Zuerst hat die EU die Landgrenzen dicht gemacht, jetzt ist sie dabei, die Seegrenzen abzudichten. Damit gibt die EU Schleusern, die auf kriminelle Art Flüchtlinge ausbeuten, erst eine Geschäftsgrundlage. Sie schafft einen Teufelskreis, denn schärfere Grenzkontrollen führen zu mehr Schleppertum. Es ist deshalb zynisch und eine Verdrehung von Tatsachen, wenn Bundesinnenminister Friedrich und viele seiner europäischen KollegInnen hierauf mit der Forderung nach noch mehr Grenzüberwachung reagieren. Eine schärfere Grenzüberwachung macht die kriminellen Geschäfte der Schleuser nur noch lukrativer.

Wir dürfen nicht untätig dabei zuschauen, dass Menschen aus lauter Verzweiflung in seeuntüchtigen Booten die gefährliche Reise über das Mittelmeer antreten. Wir brauchen dringend mehr legale Einreisemöglichkeiten für MigrantInnen und Menschen, die Schutz suchen. Das ist verantwortungsvolle Flüchtlingspolitik und zugleich der richtige Weg, das Geschäft der Schlepper auszutrocknen. Wir GRÜNE fordern ein humanitäres Visum für Schutzsuchende, das gefahrenfreie Wege für Flüchtlinge nach Europa eröffnet. Damit können Flüchtlinge legal in die EU einreisen, um dann in der EU ihren Asylantrag zu stellen. Humanitäre Visa sind im Visa-Kodex der EU bereits vorgesehen. Genau wie alle anderen Visa, können sie von den Botschaften und Konsulaten der Mitgliedstaaten vergeben werden. Die Bundesregierung und die anderen Mitgliedsstaaten müssen davon endlich Gebrauch machen. Zusätzlich müssen legale und sichere Möglichkeiten für Menschen, die ihre Heimatländer aus wirtschaftlicher Not und Armut verlassen, geschaffen werden, um nach Europa zu gelangen. Das EU-Recht sieht solche Maßnahmen vor, jedoch werden sie von der Bundesregierung und anderen Mitgliedstaaten nicht umgesetzt.

Den Flüchtlingsschutz nicht unterlaufen – Seenotrettung verbessern

Wir GRÜNE fordern schon lange ein Verbot sogenannter Pushbacks. Weder Frontex noch die Mitgliedsstaaten dürfen Flüchtlingsboote zur Umkehr zwingen. Die zunehmende Zusammenarbeit von EU-Staaten mit Drittstaaten beim europäischen Grenzschutz unterläuft den Flüchtlingsschutz auf eine noch perfidere Weise. Mit dem Überwachungssystem Eurosur soll FRONTEX das Mittelmeer und die nordafrikanischen Küsten künftig per Satelliten und anderer Überwachungstechnologie überwachen. Drittstaaten, wie etwa Libyen, sollen die so entdeckten Flüchtlingsboote abfangen, ehe sie die europäischen Gewässer überhaupt erreichen. Mit solchen Pullbacks macht die EU fragwürdige Drittstaaten zu Handlangern einer Politik, die darauf ausgerichtet ist, Flüchtlinge um jeden Preis abzudrängen. Wir GRÜNE fordern die Bundesregierung auf, sich in der EU für den Stopp solcher menschenrechtswidriger Praktiken einzusetzen. Keinesfalls dürfen sich deutsche Behörden daran beteiligen.

Die Abschottungspolitik Europas durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten fordert viele Menschenleben.

Es ist unbegreiflich, dass nun auch der Versuch, die Seenotrettung mit Eurosur zu verbessern, mit Verweis auf die nationalen Kompetenzen gescheitert ist. Auch bei gemeinsamen Einsätzen mit Frontex sperren sich die Mitgliedstaaten gegen verbindliche Regeln zur Seenotrettung. Gesetze, wie das italienische Bossi-Fini-Gesetz von 2002, das Fischer und Kapitäne, die Menschen aus Seenot retten, wegen Schleusertums vor Gericht bringt, führen dazu, dass Menschen aus Angst vor Strafen nicht helfen und im schlimmsten Fall dazu gezwungen werden, Flüchtlinge ertrinken zu lassen. Dieser Grad an Unmenschlichkeit macht uns fassungslos und ist mit den gemeinsamen Werten Europas in keinster Weise vereinbar. Wir GRÜNE fordern, dass sich die Bundesregierung im Rat endlich aktiv dafür einsetzt, die Seenotrettung von Flüchtlingen in Europa grundlegend zu sichern. Wir brauchen starke und verbindliche Regeln, die die Mitgliedsstaaten dazu bringen, ihrer internationalen Pflicht zur Seenotrettung endlich nachzukommen.

Solidarisch Handeln – mehr Flüchtlinge aufnehmen

Seit Jahren präsentiert sich Deutschland in Bezug auf die Rechte von Flüchtlingen als einer der größten Blockiererstaaten. Die Dublin-Verordnung, die Flüchtlinge zwingt, in dem Land Asyl zu beantragen, in dem sie europäisches Territorium als erstes betreten, ist fatal. Durch sie wird Europa für die Flüchtlinge zum Verschiebebahnhof. Wir wollen, dass sich ein wohlhabendes und bevölkerungsreiches Land wie Deutschland endlich zu einer solidarischen Asylpolitik bekennt, statt die EU-Mittelmeerländer mit der Verantwortung für Flüchtlinge alleine zu lassen. Für uns GRÜNE ist das Festhalten an der Dublin-Verordnung eine Absage an ein Europa der gemeinsamen Verantwortung und an den Gedanken der europäischen Solidarität. Wir fordern deshalb die sofortige Abschaffung des Dublin-Systems. Flüchtlinge sollen selbst entscheiden können, wo und in welchem Land sie Asyl beantragen wollen. Das bedeutet auch für Deutschland, dass es als reiches europäisches Land bereit sein muss, mehr Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Chancen zur Integration und ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen muss. Wir fordern seit langem den Arbeitsmarktzugang bereits für AsylbewerberInnen, die dezentrale Unterbringung, und die Abschaffung der Residenzpflicht, die sie bislang an einen Landkreis oder ein Bundesland fesselt.

Es ist zynisch, wenn Innenminister Friedrich sagt, Deutschland hätte seine Aufgabe mit der Aufnahme von 5000 syrischen Flüchtlingen erfüllt, währen in den Anrainerstaaten Syriens mehr als zwei Millionen Flüchtlinge untergekommen sind. Deutschland und die anderen EU-Mitgliedsstaaten müssen mehr Flüchtlinge aufnehmen und sich auch stärker am Resettlement-Programm des UNHCR beteiligen. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in der europäischen und in der deutschen Flüchtlingspolitik. Statt Abschreckungsstrategien und Rettungsverweigerung, das Abdrängen von Flüchtingsbooten und menschenrechtswidrige Abschottungsmaßnahmen setzen wir GRÜNE uns für ein Europa ein, das mit dem Flüchtlingsschutz und einem humanen Umgang mit Flüchtlingen endlich ernst macht. Wir wollen, dass Flüchtlinge Europa sicher erreichen können, dass sie aufgenommen, statt abgefangen werden, dass sie nicht wie Frachtgut zwischen den EU-Staaten hin- und hergeschoben werden, dass sie in allen EU-Ländern ein faires Asylverfahren bekommen und menschenwürdig leben können.

Die Bundesdelegiertenkonferenz stellt fest, dass sich Flüchtlinge bzw. Wanderarbeiter aus Libyen mit verschiedenen nationalen Staatsangehörigkeiten viele inzwischen seit über einem Jahr zwar mit formal legalen UN-Dokumenten in Deutschland aufhalten, aber keinen legalen Aufenthaltsstatus nach deutschem Recht besitzen. Sie sind im Rahmen eines Notprogramms, ausgestattet mit einen humanitären Schutzstatus aus Nordafrika in italienischen Lagern untergebracht worden. Nach Auslaufen der EU-Finanzmittel für dieses Notprogramm, erhielten sie ein dreimonatiges Schengenvisum, dass ihnen keinen legalen Zugang zum Arbeitsmarkt oder sozialen Sicherungssystemen gewährt. Sie sind völlig mittellos und auf Spenden sowie Hilfen von außen angewiesen. Durch diese Mittellosigkeit sind sie körperlich geschwächt, ihre traumatischen Erlebnisse wurden nie behandelt, psychische Zusammenbrüche sind an der Tagesordnung.

Wir fordern die Bundesregierung und Landesregierungen daher auf, diese völlig haltlose Situation der Menschen zu beenden. Die Bundesregierung muss in Absprache mit den Bundesländern eine Lösung im Sinne der Betroffenen finden. Diese spezifische Gruppe von Flüchtlingen, die als Folge des Libyenkrieges und nicht aus freien Stücken, mit Hilfe von UN und EU nach Europa gekommen sind, muss ein humanitärer Aufenthaltstitel gewährt und ihre Vulnerabiltät nach deutschem Recht geprüft werden. Den Flüchtlingen muss ein Aufenthaltsrecht nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes gewährt werden. Falls die Bundesländer eine Erteilung des Aufenthaltsrechts gemäß § 23 des Aufenthaltsgesetzes anstreben, muss der Bundesinnenminister sein Einvernehmen erteilen.