Grüner Landesparteitag in Neumünster zu Fluchtursachen und ihrer Bewältigung

Der Landesparteitag in Neumünster hat sich sehr ausführlich dem Thema der Fluchtursachen zugewandt. Luise Rede zu der Debatte auf dem Parteitag könnt Ihr hier nachhören und im Folgenden lesen:

Fluchtursachen und ihre Bewältigung:

Niemand ist freiwillig auf der Flucht. Menschen lassen ihre Heimat, Teile ihrer Familien, ihre Freunde, ihr Hab und Gut und ihr gewohntes Leben zurück weil das eigene Leben bedroht ist. Die Ursachen von Flucht sind vielfältig und komplex. Oft haben sie historisch tiefe Wurzeln, wie erzwungene Grenzziehungen, über Jahrzehnte gewachsene Macht- und Gewaltstrukturen oder kulturelle und religiöse Konflikte, die ein Leben in Freiheit nicht mehr möglich machen. Daneben gibt es zahlreiche aktuelle und mit unserem Leben in Europa direkt verbundene Gründe, die Menschen zur Flucht zwingen: Hunger, Armut, Krieg und Klimawandel. Durch eine aggressive Handelspolitik, durch Agrar- und Rüstungsexporte und die klimaverändernden Folgen der Industrialisierung tragen auch wir Europäer*innen Verantwortung für globale Krisen und dem Schicksal flüchtender Menschen. Wir Grünen warnen seit langem vor den Auswirkungen dieser globalen Herausforderung.

Und dennoch schienen diese Probleme auch in der deutschen Debatte lange abstrakt und weit weg. Die Vielzahl an Menschen, die im vergangenen Jahr in Europa Schutz gesucht haben, haben Krieg und Verfolgung ein Gesicht gegeben und uns vor Augen geführt, dass die Auswirkungen unserer Politik uns unmittelbar betreffen. Die Bekämpfung von Fluchtursachen muss aus diesen, vor allem aber aus menschenrechtlichen Erwägungen primäres Ziel europäischer und deutscher Politik sein. Zu einer vorausschauenden Außen- und Entwicklungspolitik gehören eine faire Entwicklungszusammenarbeit und faire Handelsbedingungen, der weltweite Klimaschutz und die Prävention weiterer Konflikte und Kriege. Die Gestaltung einer gemeinsamen menschenrechtsbasierten Flüchtlingspolitik ist

aber auch entscheidend für die Zukunft Europas. Sie ist zweifelsohne die größte Bewährungsprobe der Europäischen Union seit ihrer Gründung. Es geht um den Schutz von Menschen, die vor Krieg und Gewalt fliehen, aber auch um die Grundfesten der Europäischen Union, unsere gemeinsamen Werte, unser Europa ohne Grenzen, unser Europa der Freiheit und des Rechts und des solidarischen Zusammenhalts.
Niemand weiß, wie die Fluchtbewegungen im Jahr 2016 sein werden oder wie viele Flüchtlinge Deutschland in diesem Jahr aufnehmen wird. Klar ist aber, dass dieses Jahr das Jahr der Integration werden muss wenn wir weiterhin Menschen aufnehmen und bei uns dauerhaft ankommen lassen wollen. Die bisher unternommenen Anstrengungen reichen hierfür bei Weitem nicht aus.

BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN in Schleswig-Holstein beschließen:

Entwicklungszusammenarbeit

In die immer stärkere Aufteilung der Welt in wenige Gewinner und viele Verlierer kann so nicht weiter gehen. Wir brauchen eine solidarische Politik. Es darf nicht sein, dass alle vier Sekunden auf der Welt ein Kind an Hunger stirbt und auf der anderen Seite doppelt so viele Güter produziert werden, wie die Menschheit überhaupt verwerten kann. Der subventionierte Nahrungsmittelexport von landwirtschaftlichen Produkten nach Afrika und Asien stellt ein massives Problem dar, denn diese zerstören den Markt für die heimischen landwirtschaftlichen Produkte und rauben vielen Menschen die Existenz zum Leben. Die fälligen gesellschaftlichen Umgestaltungen erfordern großen politischen Mut. Wir müssen ihn jetzt aufbringen, denn wir zehren bereits seit vielen Jahren von der Substanz der Lebensgrundlagen kommender Generationen. Mit einer umfassenden Strategie ist auch eine faire Handelsstrategie vorausgesetzt, die den „infant states“ Schutz ihrer Märkte gewährt, während der europäische sich für ihre Produkte öffnet. Gleichzeitig müssen Gelder für eine nachhaltige Bewirtschaftung und Wasserversorgung zur Verfügung gestellt werden. Über die bestehenden Hilfsprogramme hinaus ist ein Marshallplan mit massiven Investitionen für

Entwicklungsländer notwendig, um diesen eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu ermöglichen. Dazu gehört:

  • die Einlösung der gemachten Finanzierungsversprechen gegenüber den ärmsten und fragilsten Staaten, das 0,7% des deutschen Bruttonationaleinkommens für globale Entwicklung bereitzustellen
  • die Harmonisierung der Wirtschafts-, Entwicklungs- und Außenpolitik mit dem Ziel der Unterstützung von Entwicklungsländern
  • eine Reform der bisherigen europäischen Agrarpolitik mit einer Abkehr vom „Wachse oder Weiche“-Prinzip, das immer stärkere Exportorientierung nach sich zieht
  • die Koppelung von EU-Agrarsubventionen an gesellschaftliche Leistungen wie Umwelt-, Naturschutz- und Tierschutzstandards, sowie die Beendigung der Exportförderung von Agrarprodukten
  • eine ökologische und soziale Verträglichkeitsprüfung von Fischereiabkommen mit Entwicklungsländern um die bestandsbedrohende Überfischung der Meere vor den Küsten Afrikas zu beenden
  • die Schaffung von Förderprogrammen für alternative Landbewirtschaftung und Erneuerbare Energien in den Entwicklungsländern
  • die Einführung effektiver Offenlegungspflichten europäischer Unternehmen entlang der globalen Wertschöpfungskette
  • die Eingliederung der WTO und OECD als Teilorganisationen in die Vereinten Nationen
  • Ahndung von Verstößen gegen internationale Verträge wie Menschenrechte, Kinderrechte, Klimaschutz, Umweltschutz, Meeresschutz, Gewerkschafts- und Arbeitnehmerrechte usw. durch Strafzölle
  • eine Vereinbarkeitsprüfung aller Politikentscheidungen, die Auswirkungen auf Drittstaaten haben, mit den UN-Nachhaltigkeitszielen und den Menschenrechten
  • die Bindung von Förderprogrammen für arme Länder an die schrittweise Entwicklung von Rechtstaatlichkeit, Demokratie, Transparenz und weiteren Kriterien
  • die Unterstützung der Nachbarstaaten Syriens bei der Aufnahme, der menschenwürdigen Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen, sowie beim Ausbau der sozialen Infrastruktur in den Nachbarstaaten
  • die Erhöhung der Hilfen für den UNHCR, das World Food Programme und UNICEF
  • dass die von den Staaten zugesagten Zahlungen tatsächlich getätigt werden, damit für die Hilfsorganisationen Planungssicherheit besteht

Außenpolitik

In Zeiten immer knapper werdender Ressourcen werden sich absehbar weitere Kriege entwickeln, bei denen es um existenzielle Güter geht, so zum Beispiel um Wasser. Unsere Außenpolitik muss dem Rechnung tragen und sicherstellen, dass Grundnahrungsmittel nicht zu Kriegsursachen oder gar selbst zu Waffen werden. Die internationale Gemeinschaft hat in der Überwindung von Krieg und der Befriedung gewaltsamer Konflikte in den vergangenen Jahren zu oft versagt. Das Prinzip der Schutzverantwortung oder das Konzept der zivilen Krisenprävention haben sich genauso wenig durchgesetzt, wie die Stärkung der Vereinten Nationen. Stärker denn je ist der UN-Sicherheitsrat in den zentralen Fragen über Krieg und Frieden blockiert. Deutschland ist der drittgrößte Waffenexporteur der Welt, teilweise werden Rüstungsexporte nach Afrika durch Bürgschaften des Bundes gestützt. Da Rüstungsexporte immer wieder in Konfliktregionen und Staaten mit einer katastrophalen Menschenrechtsbilanz geliefert werden, sind die Exportnationen, also auch Deutschland, indirekt an der Verschärfung militärischer Konflikte beteiligt. Die zivile Krisenprävention muss im Fokus außenpolitischen Handelns stehen. Dazu gehört:

  • Rüstungsexporte in Konfliktregionen und an Staaten mit einer katastrophalen Menschenrechtsbilanz zu beenden
  • die zivile Krisenprävention konzeptionell, finanziell und strukturell zu stärken und Deutschland zur Vorreiterin einer engagierten Friedenspolitik zu machen
  • die Bedeutung der zivilgesellschaftlichen Akteure für politische Konfliktlösungen zu erkennen und regionale Friedensansätze unter Einbeziehung jener zu stärken
  • sich vehement im Rahmen der Vereinten Nationen für politische
  • Lösungen einzusetzen bzw. laufende Verhandlungsprozesse konsequent und mit Nachdruck zu unterstützen
  • unter Berücksichtigung der UN-Resolution 1325 (2000) die Lage von Frauen in bewaffneten militärischen Konflikten zu verbessern und sie in die Prozesse zur Konfliktlösung gleichberechtigt einzubeziehen

Klima

Die Klimakrise verursacht immer mehr Dürren, Stürme, Hochwasser und Ernteausfälle. Sie zerstört Lebensgrundlagen und verschärft Konflikte. Immer mehr Menschen werden künftig durch die Klimakrise gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Bei der Bekämpfung der Klimakrise kommen wir viel zu langsam voran. Für den Schutz derer, die deswegen ihre bisherige Heimat werden verlassen müssen, gibt es keine Konzepte. Es ist daher elementar, dass die Bundesrepublik sich dafür einsetzt, dass

  • das in Paris beschlossene 2-Grad-Limit, besser noch das 1,5-Grad-Ziel, erreicht wird
  • es einen konkreten Plan zur Finanzierung des globalen Klimaschutzes gibt
  • die bis zum Jahr 2020 zugesagten Zahlungen in Höhe von 10 Milliarden US-Dollar getätigt werden
  • der Umgang mit bereits eingetretenen oder nicht mehr vermeidbaren klimabedingten Schäden und Verlusten vertraglich festgeschrieben werden
  • alle umweltschädlichen Subventionen abgebaut werden
  • unverzüglich ein Klimaschutzgesetz verabschiedet wird, das bis 2050 jährliche Reduktionsziele verbindlich festlegt

Europa

Mit den Europäischen Verträgen und der Grundrechte-Charta haben sich alle Mitgliedsstaaten – im Westen wie im Osten, im Norden wie im Süden Europas zur Einhaltung verbindlicher menschenrechtsorientierter Grundsätze verpflichtet. Dass Europa in der Flüchtlingsfrage nicht mit einer Stimme spricht, ist das Ergebnis einer Verweigerung der nationalen Regierungen, ihre Asyl-, und Einwanderungspolitik, aber auch ihre gemeinsame Außenpolitik besser zu koordinieren. Die Regierungen der europäischen Mitgliedstaaten haben viel zu lange gemauert und ihr Heil in nationalen Alleingängen und polizeilicher oder

sogar militärischer Abschreckung gesucht – allen voran die Bundesregierung, die das Dublin-System bis zur letzten Stunde verteidigt und damit eine solidarische europäische Lösung verhindert hat. Heute ist längst offensichtlich, dass die Herausforderung nicht mit mehr Grenzzäunen, Grenzkontrollen, einem Beiseiteschieben der Grundlagen gemeinschaftlicher Asylpolitik, nicht mit außenpolitischer Sprachlosigkeit und schon gar nicht mit rechtspopulistischem Getöse zu schaffen ist. Dass die Politik des bloßen Durchwinkens von Menschen, die Schutz und Zuflucht suchen, keine Lösung ist, haben die vergangenen Wochen und Monate gezeigt und werden uns noch einmal deutlicher mit der europäischen

Sprach- und Tatenlosigkeit gegenüber den gestrandeten Flüchtlingen in Idomeni vor Augen geführt. Uns ist klar: Die EU und der Schengenraum haben gemeinsame Außengrenzen. Ihre Sicherung war und ist Voraussetzung für ein grenzenloses Europa im Inneren. Wollen wir unsere Partner in der EU und an den europäischen Außengrenzen für einen Politikwandel weg von Abschottung hin zu Offenheit gewinnen, dürfen wir sie mit ihren Herausforderungen nicht alleine lassen. Ein kleinster gemeinsamer Nenner für gemeinsame Lösungen ist eine solidarische Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU. Wer keine neuen Grenzzäune innerhalb der EU will, wer das Leiden an der Außengrenze minimieren und weitere Tragödien auf dem Mittelmeer verhindern will, muss jetzt konkrete Vorschläge

machen, wie das durch die Realität hinfällig gewordene „Dublinsystem“ ersetzt oder umgebaut werden soll. Es ist klar geworden, dass kein Mitgliedstaat diese Herausforderung allein stemmen kann. In der jetzigen Situation kann Europa sich als Wertegemeinschaft beweisen und sie zum Anlass nehmen, die europäischen Institutionen zu stärken und sie aus ihrem Schattendasein zu holen. Wir brauchen jetzt nicht nur mehr Europa und mehr Union, wie es Kommissionspräsident Juncker in seiner Rede an die Nation zurecht eingefordert hat: Wir brauchen auch ein besseres Europa! Die von den europäischen Staats- und Regierungschefs mit der Türkei getroffene Vereinbarung über die Rücknahme aller in Europa aus der Türkei ankommenden Flüchtlinge und die im Gegenzug versprochenen Aufnahmekontingente sind keine Lösung, sondern eine Auslagerung der Verantwortung und ein Bruch des internationalen Rechts. Die Vereinbarung ist Sinnbild des Scheiterns europäischer Solidarität. Die Türkei kann nur Teil einer europäischen Lösungsstrategie sein, wenn die massiven Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung Erdogan auf den Tisch kommen und die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention ohne regionalen Vorbehalt vollumfänglich umsetzt. Folgende europapolitische Maßnahmen sind notwendig:

  • die Schaffung europäischer Erstaufnahmeeinrichtungen an den EU Außengrenzen zur Identifizierung, Registrierung und Weiterverteilung von Schutzsuchenden
  • die Ausstattung der Erstaufnahmeeinrichtungen mit menschenwürdigen Unterbringungen, Verwaltungspersonal aus allen Flüchtlinge aufnehmenden Mitgliedsstaaten, sowie einer anständigen Rechtsberatung, medizinischer Versorgungsinfrastruktur und ersten vorbereitenden Integrationsangeboten
  • die Begründung einer neuen strategische Zusammenarbeit mit dem erfahrenen UNHCR in Europa und die Bereitstellung der dazu erforderlichen Finanz- und Personalmittel
  • die enge Einbindung der EU-Grundrechte-Agentur beim Betrieb der europäischen Erstaufnahmeeinrichtungen, um die Einhaltung menschenrechtlicher Standards zu gewährleisten
  • die personelle Aufstockung des europäischen Asylunterstützungsbüros EASO
  • die Anbindung von Frontex an das Schengener Informationssystems (SIS), um bereits im Vorfeld mit der Registrierung die nationalen Asylsysteme zu entlasten
  • die Schaffung eines Mechanismus zur Errichtung von Notunterkünften unter Leitung der EU, im Zweifel auch gegen das Einverständnis des betreffenden Mitgliedsstaats, sollte dieser bei humanitären Notlagen nicht handlungsfähig- oder willig sein
  • die Etablierung eines verbindlichen Verteilungsschlüssels, der die Kriterien der EU Kommission (Bevölkerungsgröße, Höhe des BIP, Arbeitslosenquote) aber auch die Interessen und Integrationschancen der Flüchtlinge (soziale, familiäre, kulturelle Bindung, Sprachkenntnissen etc.) und individuelle Präferenzen von Flüchtlingen berücksichtigt
  • die zügige Umverteilung der durch die Mitgliedsstaaten zugesagten 160.000 Schutzsuchenden
  • eine humanitäre Notversorgung und Verteilung der sich in Idomeniaufhaltenden Flüchtlinge
  • die vollständige Umsetzung der Asylverfahrens-Richtlinie in den Mitgliedsstaaten, auch in Deutschland
  • die Schaffung annähernd gleicher Anerkennungschancen auf dem Weg zu einer Vollharmonisierung der europäischen Asylpolitik
  • Verhandlungen mit der Türkei über die Rücknahme des regionalen Vorbehalts bzw. die vollumfängliche Ratifizierung der Genfer Flüchtlingskonvention
  • die Stärkung legaler Einreisemöglichkeiten durch den massiven Ausbau des Resettlementprogramms der Vereinten Nationen
  • die Eröffnung von EU-Delegationspunkten in und um die Krisenregionen, besonders zur Unterstützung bei der Zusammenführung von Familien
  • die Einführung eines humanitären Visums sowie den Ausbau der Möglichkeit von Botschaftsverfahren analog zu den bestehenden Regelungen für Menschenrechts-Verteidiger*innen
  • die Schaffung eines Kompensationsmechanismus für Mitgliedsstaaten, die nicht an dem Verteilungsschlüssel teilnehmen wollen, wie zum Beispiel Kontingent-Lösungen im Rahmen des UNHCR-Resettlement oder die Aufnahme ganzer Flüchtlingsgruppen, ein verstärktes Engagement bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus anderen Krisenregionen (z.B. der Ukraine) oder beispielsweise dem Betrieb von Erstaufnahmeeinrichtungen an den Außengrenzen

Deutschland

Auch die Bundesrepublik Deutschland steht mit der Aufnahme von Hundertausenden Schutzsuchenden vor einer der größten Herausforderungen ihrer jüngeren Geschichte. Die Aufnahme von Schutzsuchenden ist eine menschenrechtliche, völkerrechtliche und humanitäre Verpflichtung. Dieser Grundsatz muss sich gerade jetzt bewähren. Alle Versuche, das Grundrecht auf Asyl auszuhöhlen oder gar abzuschaffen, müssen zurückgewiesen werden. Die Menschen, die bei uns Schutz suchen, haben einen Anspruch auf ein faires, unvoreingenommenes und zügiges Verfahren. Es ist inakzeptabel, dass der Stau anhängiger Verfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) immer weiter anwächst (mit Stand 2016 waren es über 390.000 Menschen). Auch das Werben von Mitarbeiter*innen und das Schulen von neuem Personal läuft nach wie vor schleppend. So wie das Asylpaket I hat auch das Asylpaket II einseitig auf die Rechte von Schutzsuchenden abgezielt. Das betrifft die Schutzmaßnahmen für besonders schutzbedürftige Personen, wie Kinder, Frauen, traumatisierte und kranke Flüchtlinge im Asylverfahren, bei der Unterbringung und der medizinischen und therapeutischen Versorgung. Die Bundesregierung weigert sich weiterhin, die EU – Asylverfahrens- und die EU-Aufnahmerichtlinie, deren Frist bereits im Juli 2015 abgelaufen sind, umzusetzen. Hier verletzt die Bundesregierung die bestehende Umsetzungspflicht und macht sich dadurch gegenüber der EU vertragsbrüchig. Die Kommission hat bereits ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet. Die Bundesregierung vernachlässigt in einem unerträglichen Maße die zentrale Aufgabe zur Verbesserung der Integrationsbedingungen für Flüchtlinge in Deutschland. Statt an den Grund- und Menschenrechten zu rütteln, wie beispielsweise mit der Einschränkung beim Familiennachzug, müssen unnötige und oft auch

integrationshemmende Vorschriften, die weiterhin unnötig Kapazitäten beim BAMF binden und damit die Dauer von Asylverfahren verlängern, beseitigt werden. Hier hat die Bundesregierung bisher komplett versagt. Ein schlüssiges Gesamtkonzept für Integration, das gutes Zusammenleben, Teilhabe und Unterstützung für Integration in den Mittelpunkt stellt, ist längst überfällig. Dazu gehört:

  • die obligatorischen Widerrufsverfahren ersatzlos abzuschaffen
  • dass zur signifikanten Entlastung des BAMF eine Altfallregelung für unangemessen lang andauernde Asylverfahren geschaffen wird
  • dass die Aufgabe der schriftlichen Verfahren und Wiederaufnahme der Dublin- Verfahren für syrische Flüchtlinge wieder rückgängig gemachet werden, da sie das BAMF unverhältnismäßig belasten
  • dass zeitnah die Vorgaben aus der EU-Aufnahmerichtlinie für die Personengruppen der besonders schutzbedürftigen Flüchtlinge hinsichtlich des Asylverfahrens, der Unterbringung und der medizinischen bzw. therapeutischen Versorgung gesetzlich umgesetzt werden
  • dass das Kindeswohl in allen ausländerrechtlichen und asylrechtlichen Verfahrensschritten gemäß den Vorgaben der Kinderrechtskonvention vorrangig berücksichtigt werden, das Vorliegen kinderspezifischer Verfolgungsgründe stärker als bisher im Asylverfahren Berücksichtigung findet, Verfahren geschaffen werden, die es ermöglichen, Flüchtlingskinder altersgerecht anzuhören und am Asylverfahren zu beteiligen und dass während der Anhörung der Eltern eine Kinderbetreuung vorgehalten wird
  • dass geflüchtete Kinder und Jugendliche von Anfang an Zugang zu Kindertagesstätten und Schulen haben dass ein Nachtragshaushalt vorgelegt wird, um die aus dem Überschuss 2015 gebildete Rücklage schnell und konsequent für Integrationsmaßnahmen, insbesondere für den sozialen Wohnungsbau, Bildung und die Integration in den Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen
  • dass die Kommunen und Länder finanziell darin unterstützt werden, flächendeckend und gemessen am Bedarf Sprach- und Integrationskurse anzubieten
  • dass die Arbeitsagenturen und Jobcenter auch in den Erstaufnahmeeinrichtungen vertreten sind, um Flüchtlinge zu informieren, zu beraten und ihre Qualifikationen festzustellen.
  • dass ein umfassendes Integrationskonzept auf den Weg gebracht wird, beispielsweise mit der Verankerung von Rechtssicherheit für Auszubildende und Betriebe durch ein gesichertes Aufenthaltsrecht für Asylsuchende und Geduldete in der Berufsausbildung und für eine anschließende Weiterbeschäftigung
  • dass die Vorschriften zur Arbeitsmigration systematisiert, liberalisiert und unbürokratisch ausgestaltet werden
  • dass Frauen im Integrationsprozess besondere Unterstützung erfahren, gerade dann, wenn es für sie nicht selbstverständlich ist, sich an Kursen zu beteiligen oder auf eine Perspektive in Arbeit vorzubereiten
  • dass das Geburtsrechts im Staatsangehörigkeitsrecht festgeschrieben wird
  • dass die Bundesmittel für den sozialen Wohnungsbau auf mindestens zwei Milliarden Euro im Jahr aufgestockt werden
  • dass Engagierte in Projekten, Initiativen oder vereinen eine langfristige, verlässliche, unbürokratische und transparente Förderstruktur erhalten

Wir sehen uns in der Verantwortung, konkrete Schritte zur Umsetzung der verschiedenen notwendigen Maßnahmen zu unterstützen, in den Kommunen, im Land, im Bund. Gleichzeitig dürfen wir den eigentlichen Horizont nicht aus den Augen verlieren. Beides ist kein Widerspruch, sondern das eine kann ohne das andere nicht erreicht werden. Eine Politik ohne Wertekompass verliert die Richtung, eine Politik ohne konkrete Schritte kommt nie ans Ziel. In dieser schwierigen Phase ist es die Aufgabe der Grünen, einerseits für die eigentliche Lösungen im Rahmen einer echten europäischen Gemeinschaft immer wieder einzustehen und zu kämpfen, andererseits mitzuhelfen, den Konsens der Demokraten herzustellen und zu verhindern, dass Ausländerfeindlichkeit und Rassismus mehrheitsfähig werden. Dieser doppelten Aufgabe werden wir uns mit aller Kraft stellen.