Reise nach Lesbos

IMG_0405Vom 06. bis zum 09. Dezember 2015 habe ich mir auf der griechischen Ägäis-Insel Lesbos einen Eindruck von der dortigen Flüchtlingssituation machen können. Lesbos ist die am stärksten von der derzeitigen Fluchtbewegung betroffene Insel Griechenlands. Der UNHCR beziffert die Zahl der in Griechenland ankommenden Schutzsuchenden auf 758.790 seit Anfang 2015; davon sind 436.079 auf Lesbos gelandet. Damit kam 2015 fast die Hälfte aller Schutzsuchenden über Lesbos in die EU, zumeist in unsicheren (Schlauch-) Booten von der nahegelegenen türkischen Küste aus. Im November erreichten im Durchschnitt täglich ca. 3.000 Menschen die Insel, Anfang Dezember waren es durchschnittlich ca. 2.000 pro Tag. Die meisten Flüchtlinge kamen aus Syrien (40%), gefolgt von Afghanistan (35%), Irak (11%) und Iran (6%). Der Anteil der Kinder (derzeit 26%) ist deutlich angestiegen. Laut offiziellen Angaben der griechischen Küstenwache sind 2015 bisher 206 Menschen in griechischen Gewässern ums Leben gekommen, 114 gelten als vermisst, ein Fünftel davon Kinder.

 

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Seit Oktober 2015 gibt es auf Lesbos in Moria, unweit der Inselhauptstadt Mytilini, einen sogenannten „Hotspot“, ein von der EU unterstütztes Registrierzentrum. Nach dem von der EU-Kommission im Mai 2015 vorgestellten Konzept sollen Hotspots an den europäischen Außengrenzen errichtet werden, um die EU-Mitgliedsstaaten, die am stärksten von Migration betroffen sind – bisher Italien und Griechenland – bei der Registrierung und Weiterverteilung von Schutzsuchenden zu unterstützen. Hierzu sollen, zumindest der Idee nach, Mitarbeiter*innen u.a. der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX und des europäischen Asylunterstützungsbüros EASO die jeweils nationalen Behörden bei der Registrierung, aber auch bei der innereuropäischen Weiterverteilung, der sogenannten „Relocation“ unterstützen. Ob und wie dieses Konzept funktioniert, davon wollte ich mir vor Ort selbst ein Bild machen.

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Montag, 07. Dezember 2015
Diesen Tag verbrachten wir im Norden der Insel, wo bislang die große Mehrheit der Flüchtlingsboote angekommen ist. Auffallend ist, dass weder der griechische Staat noch die EU bei der Ankunft und Erstversorgung der Flüchtlinge in irgendeiner Form präsent sind. Dafür haben ehrenamtliche Helfer*innen und nichtstaatliche Organisationen inzwischen eine beeindruckende Infrastruktur geschaffen, die sich der dort ankommenden Schutzsuchenden annimmt. Ich hatte die Gelegenheit zu zahlreichen Gesprächen mit vielen engagierten Menschen, lokale und extra angereiste, professionelle Vertreter*innen internationaler humanitärer Organisationen sowie Ehrenamtliche, die zum Teil ihren Jahresurlaub auf der Insel verbringen, um mit anpacken und helfen zu können. Auffallend ist aber auch das Engagement der Bewohner von Lesbos, die den Schutzsuchenden weiterhin mit viel Empathie und Menschlichkeit begegnen. Ich selbst durfte erleben, dass es vor Ort unmöglich ist, unbeteiligte Beobachterin zu sein. In Skala Sykamineas, diesem beschaulichen Hafen, der bei strahlend blauem Himmel und Sonnenschein eigentlich Urlaubsassoziationen weckt, wurden wir Zeugen der Ankunft eines Bootes, voll besetzt mit Menschen, unter ihnen viele Kinder. Dank der Helfer*innen – unter anderem Booten von Greenpeace – wurden alle unversehrt an Land in Empfang genommen. Von unschätzbarem Wert waren hierbei nicht zuletzt die Freiwilligen von „Pro Activa“ (http://www.proactivaopenarms.org/), einer spanische Organisation von Rettungsschwimmer*innen, die vor Ort unglaubliches leisten!

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 Unweit der Küste gibt es mehrere von Hilfsorganisationen betriebene „Transitcamps“. Wir besichtigten am Montag gleich drei solcher Camps im Norden der Insel. Bei Mantamados betreibt Ärzte ohne Grenzen (MSF) eine Durchgangseinrichtung, die Flüchtlingen trockene Kleidung und eine warme Mahlzeit sowie die Möglichkeit zur Rast und ärztlicher Erstversorgung bietet. Das Camp wird komplett über Spenden finanziert und genießt aufgrund der Anstellung lokaler Mitarbeiter*innen eine entsprechende Akzeptanz in der Bevölkerung vor Ort.

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Zusammen mit einer Vertreterin des Deutschen Roten Kreuzes und ihren Kolleg*innen, einem Rettungsteam des Hellenischen Roten Kreuzes, fuhren wir weiter zur Besichtigung eines vom International Rescue Committee neu eingerichteten Aufnahmelagers an der Küste zwischen Skala Sykamineas und Molyvos.

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OXY Camp (http://www.asterias-starfish.org/en/) ist eine weitere Durchgangseinrichtung – auf dem Parkplatz des Nachtclubs OXY. Dies ist die älteste Einrichtung; sie wird ausschließlich von Freiwilligen betrieben, die sich als „Starfish Foundation“ zusammengeschlossen haben. Hier können sich Flüchtlinge ausruhen, auch übernachten, bevor sie mit Bussen in die Registrierungszentren gebracht werden.

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Letzte Station war das Kara Tepe Camp. Kara Tepe ist eine große, zunächst von griechischen Freiwilligen gegründete Aufnahmeeinrichtung in der Nähe von Mytilini. Hierher werden syrische Familien gebracht. Mittlerweile bietet Kara Tepe mehr als tausend Menschen Unterkunft; als wir dort waren wurde eifrig daran gearbeitet, die bestehenden Häuser winterfest zu machen. Hier wirken in erster Linie UNHCR und ein vom Bürgermeister ernannter Camp Manager zusammen. Karatepe soll künftig auch als Registrierungsstelle inkl. EURODAC-Geräten genutzt werden. Bislang erfolgten Registrierungen hier nur bei Bedarfsspitzen und dann behelfsmäßig mittels Tinte auf Papier. Die entsprechende Gebäudeeinheit (ein Unterstand) wird zurzeit befestigt.

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Dienstag, 08. Dezember 2015
Nach allem was wir über den ersten „Hotspot“ in Griechenland gehört und gelesen hatten, die mit dem Hotspot-Konzept verbundenen Hoffnungen sowie die kritischen Stimmen, die die Einhaltung humanitärer Standards in der Umsetzung anmahnen, war ich mehr als gespannt, mir am Dienstag endlich selbst einen Eindruck von dem Registrierzentrum Moria zu machen. Das Fazit ist ernüchternd. Das Chaos, das die Flüchtlinge dort erwartet ist unbeschreiblich. Teile des Lagers sind mit NATO-Draht und hohen Zäunen abgetrennt, darunter auch ein abgeschlossener Bereich für allein reisende Minderjährige. Es gibt Mitarbeiter diverser Hilfsorganisationen, griechischer Behörden und der EU (FRONTEX, EASO), die Abläufe erscheinen undurchsichtig und chaotisch. Viele Flüchtlinge versuchen, die Insel möglichst schnell zu verlassen und ihre Flucht fortzusetzen. Zuvor müssen sie sich jedoch im „Hotspot“ Moria registrieren lassen. Dort treffen täglich im Schnitt ca. 2.000 Menschen ein, womit die vorhandenen Kapazitäten völlig überlastet sind. Für die daraus folgenden langen Wartezeiten gibt es keine Vorkehrungen der griechischen Stellen, was angesichts der kühlen Temperaturen und des steigenden Anteils von Kleinkindern ein ernstes humanitäres Problem darstellt. Die Aufenthaltsdauer beträgt zwischen wenigen Tagen (nach Angaben der Polizei) bis hin zu einigen Wochen (nach Angaben der Betroffenen).

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Im „Hotspot“ Moria werden die Flüchtlinge tagsüber in zwei Schichten von FRONTEX-Mitarbeitern registriert; dabei werden ihnen auch Fingerabdrücke genommen. In einem weiteren Container erhalten alle Flüchtlinge von griechischen Beamten ein in griechischer Sprache abgefasstes Papier, das ihnen – vorübergehend – den Aufenthalt in Griechenland erlaubt, wobei Flüchtlingen aus Syrien und einigen anderen Staaten mit europaweit hoher Anerkennungsquote ein längerer Aufenthalt gestattet wird. Dieses Papier ist Voraussetzung für die Weiterfahrt mit der Fähre nach Piräus und wird auch von den Behörden Mazedoniens für die Einreise dort akzeptiert. Die griechischen Beamten in Moria arbeiten 24 Stunden rund um die Uhr. Die in Moria gewonnenen Eindrücke wurden bei einem Treffen mit deutschen Vertretern von FRONTEX und EASO vertieft.

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Treffen mit griechischen Institutionen
Nach einem Besuch bei der griechischen Küstenwache gab es ein sehr freundliches Gespräch mit dem Leiter des Krankenhauses von Mytilini, das sich stark bei der Notfallversorgung von Flüchtlingen engagiert hat. Bei dem anschließenden Treffen mit dem Bürgermeister von Mytilini bekräftigte dieser seine Auffassung, dass Lösungen der Migrationskrise nur in der Türkei gefunden werden könnten und dass die EU humanitäre Aufnahmen von dort beschließen möge; nur so könne die massenhafte gefährliche Überfahrt auf die griechischen Inseln wirksam verhindert werden. Lesbos sei aber auch bereit, eine größere Zahl von Flüchtlingen dauerhaft aufzunehmen, wenn es dafür ausreichende europäische Investitionen, vor allem in Arbeitsplätze, gebe. Ich habe dem Bürgermeister für die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung von Lesbos sowie seiner Verwaltung gedankt.

Nachtpatrouille am Strand (mit UNHCR)
Während im Sommer die meisten Flüchtlingsboote im Norden der Insel landeten – von dort sind es nur wenige Kilometer bis zur türkischen Küste – hat sich das Geschehen Anfang Dezember zunehmend in den Süden und Osten der Insel verschoben. Zum einen verlängert das die Überfahrt, zum anderen landen die Boote jetzt oft erst in der Dunkelheit an. Helfer patrouillieren während der Nacht an der Küstenstraße, um ankommende Menschen empfangen und versorgen zu können.

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Mittwoch, 09.Dezember 2015
Vor unserer Abreise aus Lesbos, auf dem Weg zum Flughafen hatten wir noch die Gelegenheit Pikpa zu besuchen. Dies ist eine von Griechen gegründete und von Freiwilligen geführte Einrichtung in einem ehemaligen Ferienlager. Hier halten sich insbesondere Menschen mit Behinderungen oder kranke Flüchtlinge auf, einige auch länger. Es ist eine Rückzugsmöglichkeit für Familien, die auf der Flucht getrennt wurden oder aus anderen Gründen ihre Flucht nicht sofort fortsetzen können. Soweit möglich, helfen die Flüchtlinge bei der Arbeit, z.B. in der Küche oder im Garten. Dies war ein versöhnlicher Abschluss der Reise, der uns nochmals die unermüdliche Tatkraft und große Hilfsbereitschaft der vielen Freiwilligen vor Augen führte.