Luises Bundestagsrede zum Familiennachzug

10.11.2016

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Lieber Kollege Patzelt, ich maße mir nicht an, zu beurteilen, ob es richtig ist, als Familienvater alleine anstatt mit der Familie den Weg über das Mittelmeer zu suchen, und ich maße mir auch nicht an, zu beurteilen, ob man im Bürgerkriegsland bleibt, weil einem vielleicht das Geld fehlt, um die Flucht zu ermöglichen. All das zu beurteilen, maße ich mir schlichtweg deshalb nicht an, weil ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie es sein muss, derzeit in Syrien zu leben, und was es alles braucht, um dieser Hölle zu entfliehen.

Wir Grünen haben den vorliegenden Gesetzentwurf aus drei Gründen geschrieben:
Wir glauben, dass wir zumindest einen kleinen Beitrag dazu leisten können, dem unsinnigen Sterben von Menschen – darunter vielen Kindern – auf dem Mittelmeer zumindest ein Stück weit etwas entgegenzusetzen. Frau Kollegin Woltmann, Sie haben gesagt, Sie wünschen sich ein geordnetes Verfahren. Das wünschen wir uns auch. Dem Familiennachzug in seiner Gesamtheit liegt ein geordnetes Verfahren zugrunde. Wir wissen sehr genau, wer kommt, wir wissen genau, wann jemand kommt, und wir wissen, dass er sicher kommt. Diese Argumentation müsste Ihnen eigentlich helfen, unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.

Der Familiennachzug ist einer der wenigen legalen und vor allen Dingen ungefährlichen Möglichkeiten für Schutzbedürftige, der Brutalität des Krieges zu entgehen. Außerdem sind wir der festen Überzeugung, dass eine dauerhafte Integration, also das wirkliche Ankommen in Deutschland, nur gelingen kann, wenn Familien zusammenbleiben.
Jemand, der dem Krieg entkommen ist, hat viel zu verarbeiten und wird viel Kraft aufbringen müssen, um hier ein neues Leben aufzubauen. Es ist menschlich nicht zumutbar, dass diese Menschen neben all dem materiellen Verlust, den sie erlitten haben, auch noch das verlieren, was sie am meisten lieben.
Familien sind ja – das ist das dritte Argument für unseren Gesetzentwurf – durch unsere Verfassung geschützt. Dieser Verfassungsrang, liebe Kolleginnen und Kollegen, der dem Respekt vor und dem Schutz von Familien zukommt, dieser Verfassungsrang bezieht sich eben nicht nur auf Menschen mit einem deutschen Pass, sondern ist grundsätzlich und muss deshalb auch für geflüchtete Menschen in Deutschland gelten. Dem werden Sie mit dieser Regelung zum Familiennachzug eben nicht gerecht. Sie schützen die Familien nicht, sondern Sie trennen sie dauerhaft – und das sehr bewusst.

Eines ist vollkommen klar – damit komme ich noch einmal zu der Unterscheidung, ob nach Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt oder subsidiär schutzberechtigt -: Für Menschen beider Gruppen gilt gleichermaßen, dass ein Leben mit der Familie im Heimatland unmöglich ist. Deshalb ist es absolut nicht zu rechtfertigen, eine Unterscheidung zwischen diesen beiden Gruppen bei der Form des Schutzes zu treffen, und entbehrt jeder Grundlage. Weil das so ist, wurden die Regelungen 2015 ja sozusagen angeglichen und beiden Gruppen der Nachzug von Familien gestattet. Erst dann, als klar und deutlich wurde, dass eine große Zahl von Menschen von diesem Recht Gebrauch machen wird, haben Sie das Rad wieder zurückgedreht, und zwar mit dem klaren Ziel, die Quote derjenigen, die den subsidiärenSchutz erhalten sollen, zu erhöhen und damit den Nachzug von Familien eben drastisch zu reduzieren.

– Ja, es ist aber ein Zahlenargument, Frau Woltmann, und kein moralisches. Dies hier herauszuarbeiten ist auch Aufgabe der Opposition, und das tun wir hiermit.
Die SPD hat das damals im sogenannten Asylpaket II so mitgetragen. Ich möchte gerne Rüdiger Veit für seine Rede ausdrücklich danken. Es ist überhaupt nicht verwunderlich, dass er das hier so herausarbeitet, Herr Patzelt; denn Abgeordnete sind frei und ihrem Gewissen verpflichtet,
und ich glaube, Ihre Rede hier war deutlich ein Appell dafür, dass diese Entscheidung über den vorliegenden Gesetzentwurf eben nicht nur eine Entscheidung ist, die der Fraktionsdisziplin unterliegt, sondern auch eine, die dem Gewissen Rechnung tragen muss.

– Ja, das wünschen wir uns auch, dass dies bei jeder Entscheidung so gemacht wird. Bei dieser ist es aber sehr offensichtlich, und davon hat Rüdiger Veit, wie ich finde, sehr treffend Gebrauch gemacht.
Nun kann man der SPD unterstellen, dass es entweder naiv oder aber knallhart kalkuliert war. Ich stelle mich da auf keine Seite. Aber beides ist kein Ruhmeszeugnis; denn es ist Fakt, dass die Annahme, es werde nur eine kleine Gruppe von Menschen treffen, falsch war. Wir haben das damals schon kommen sehen – Sie nicht. Das ist nicht weiter schlimm, denn wir geben Ihnen ja jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die Möglichkeit, darauf zu reagieren und diese Entscheidung zu korrigieren.

Sie haben eben nicht erkannt, dass es eine deutlich größere Gruppe als angenommen treffen wird. Sie haben auch nicht erkannt, dass die Dauer der Trennung bis zum Familiennachzug deutlich länger sein wird, nämlich bis zu fünf Jahre. Ich kann dazu nur sagen: Mein Sohn ist anderthalb Jahre alt. Die Vorstellung, in dieser wichtigen Zeit fünf Jahre von ihm getrennt zu sein, kann nicht mit dem Hinweis auf eine Wartefrist beschönigt werden. Es wäre eine dauerhafte Trennung, die ich persönlich keinem einzigen Menschen zumuten möchte.
Wir müssen uns auch klarmachen, was das für die Strukturen in Deutschland bedeutet, beispielsweise für die Beratungsverbände, die nicht wissen, wie sie erklären sollen, warum der eine Mensch aus demselben Dorf in Syrien seine Familie sofort nachholen darf, der andere aber erst in zwei Jahren. Das kann man nicht erklären.
Man kann auch von den Menschen nicht erwarten, dass sie das erklären; denn es ist unverhältnismäßig. Die veränderte Entscheidungspraxis des Bundesamtes führt darüber hinaus zu einer Reihe von Verwaltungsgerichtsentscheidungen, die unnötig wären und unsere Strukturen massiv belasten.

Wir haben unbegleitete Minderjährige, die alleine hierherkommen, 18 Jahre alt werden und dann kein Recht mehr darauf haben, mit ihrer Familie zusammengeführt zu werden, und deshalb dauerhaft, also lebenslang, von ihrer Familie getrennt sein müssen, wenn sie diesen Zustand nicht ändern und vielleicht nach Syrien oder in die Türkei zurückgehen. Kurzum, es ist schlecht für alle Beteiligten: die Betroffenen, die Beratungsstellen, die Gerichte, aber auch für die Zivilgesellschaft.

Mein letzter Gedanke: Die Zivilgesellschaft, die sich jetzt über ein Jahr lang mit Zeit, privatem Geld und höchstem Engagement dafür eingesetzt hat, dass Menschen hier ankommen können und eine Perspektive bekommen, sieht jetzt reihenweise Gemüter zerbrechen, weil Menschen hier leben und nicht wissen, wie sie zu ihren Familien kommen können. Auch das demobilisiert eine Gesellschaft, das frustriert eine Gesellschaft, enttäuscht sie von Politik. Auch das müssen wir uns auf die Fahnen schreiben; denn wenn wir diese Leute verlieren, dann verlieren wir deutlich mehr als nur das Engagement für Flüchtlinge.