Luises Rede zu den Entwicklungen des EU-Türkei-Abkommens

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist doch vollkommen unbestritten, dass die Türkei Teil der Lösung bei der Aufnahme und bei der Versorgung von Flüchtlingen ist. Von meiner Fraktion hat das nie jemand bestritten. Im Gegenteil: Während sich die Bundesregierung in den vergangenen zwei Jahren immer nur mit den europäischen Nachbarländern verglichen hat im Hinblick auf die großen Herausforderungen, die unser Land zweifelsohne zu leisten hat und hatte, waren in Jordanien, waren im Libanon, waren in der Türkei bereits Millionen von Flüchtlingen angekommen.
Schon damals haben wir hier im Bundestag deutlich eingefordert, dass die Nachbarländer Syriens besser unterstützt werden müssen, und zwar nicht nur finanziell, sondern vor allem auch durch die gezielte und sichere Aufnahme von Flüchtlingen aus diesen Ländern.
Die Unfähigkeit europäischer Regierungen, diesen Weg konsequent zu verfolgen, hat dazu geführt, dass Flüchtlinge in den Nachbarländern Syriens wegen Hungers, fehlender Unterkünfte und fehlender Perspektiven ein zweites Mal flüchten mussten, nämlich nach Europa. Und das ist auch nachvollziehbar, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Also ja, europäische Lösungen für die Herausforderungen in der Flüchtlingspolitik waren nie und zu keiner Zeit denkbar ohne die Türkei. Die EU – das ist sozusagen die Analyse dessen, was jetzt passiert ist – hat sich mit der nun geschlossenen Vereinbarung, wie wir finden, in eine inakzeptable Abhängigkeit von der Türkei begeben; denn die gleiche Türkei, der Europa jetzt das Schicksal von Millionen von Flüchtlingen in die Hand legt, produziert mit ihrer Innenpolitik und ihrem Umgang mit den Kurden täglich neue Flucht. Darüber darf hier, meine sehr verehrten Damen und Herren, nicht geschwiegen werden.
Nicht nur deswegen ist diese Vereinbarung schlecht; sie entspricht nicht dem, was wir als unsere europäischen Werte definiert haben. Da muss man die Bundesregierung kritisieren: Bei Abschluss dieser Vereinbarung, dieses Deals, wurde die Aufnahme von Flüchtlingen eben nicht eng verknüpft mit der Forderung, dass die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention erfüllt, dass sie für Menschen im eigenen Land Perspektiven schafft. Deshalb, glaube ich, ist es naiv, zu glauben, dass diese Vereinbarung hält. Sie ist nicht auf Dauer angelegt. Das zeigt unter anderem auch die Haltung der Bundesregierung zur Visaliberalisierung. Die 72 Bestimmungen umzusetzen, ist ein ziemlich harter Schritt, der so schnell nicht zu leisten sein wird. Das heißt, es wird sich noch in diesem Jahr die Frage stellen, ob die Türkei alle Forderungen erfüllen kann. Wenn nicht, stellt sich die Frage, ob der EU-Türkei-Deal weiterhin Bestand hat. Das ist doch ganz klar.
Insofern müssen Sie, wenn man einmal nach Deutschland schaut, sich unter anderem auch die Situation unserer eigenen Flüchtlingspolitik ansehen. Wir haben viele Erstaufnahmeeinrichtungen, die leer stehen. Viele Innenminister stellen sich jetzt die Fragen: Müssen wir die dichtmachen? Sollen wir die auflassen? Müssen wir weiter Geld investieren? Sie halten sich alle an die Prognose der Bundesregierung, dass diese Vereinbarung mit der Türkei hält, bauen Unterkünfte und Strukturen zurück, obwohl wir wissen, dass eine Verlagerung der Fluchtrouten stattfinden wird und dass dieser Deal möglicherweise nicht hält und wir vielleicht in Deutschland am Ende dieses Jahres wieder vor derselben Situation stehen wie im vergangenen Jahr. Das kann wirklich keiner wollen, verehrte Kolleginnen und Kollegen.

Ihnen sollte klar sein: Wenn man einen Deal macht, wenn man Verantwortung verlagert, dann bedeutet das gleichzeitig auch, dass die Verantwortung nicht an den eigenen Landesgrenzen haltmacht. Wenn man einen Deal mit der Türkei macht, dann ist das, was in der Türkei passiert, auch unsere Angelegenheit und fällt in unsere Verantwortung. Dann kann uns nicht egal sein, was vor Ort passiert.
Da geht es um Themen, die hier mehrfach schon angesprochen wurden. Es gibt glaubhafte Berichte von Menschenrechtsorganisationen, die von Abschiebungen von Frauen und Kindern in Kriegsgebiete sprechen, mittlerweile sogar von Schüssen auf Flüchtlinge. Diese Auskünfte können wir nicht widerlegen. Während die Kanzlerin sich schöngemachte Flüchtlingslager in der Türkei ansieht, leben aber Hunderttausende von Menschen in prekären Verhältnissen, viele syrische Kinder dort sind ohne Zugang zu Bildung, Menschen sind ohne Perspektive und Zugang zu Arbeit. Auch die Situation in Griechenland hängt damit im Übrigen unmittelbar zusammen.
Wie können wir von einer Lösung sprechen, wenn in Idomeni noch Tausende von Menschen an der Grenze ausharren, weil sie wissen, dass jeder Weg ins griechische Asylsystem in eine Sackgasse mündet? 54 000 Menschen in Griechenland warten noch auf die Bearbeitung von Asylanträgen. Die griechische Asylbehörde verfügt derzeit über 260 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und kann nur eine winzig kleine Zahl von Anträgen bearbeiten. Und der KOM, der Kommission, fällt nichts Besseres ein, als sich wieder an das Dublin-System zu ketten, statt alles daranzusetzen und alles zu unternehmen, um wieder zurück zu den Plänen einer gemeinsamen Verteilung zu kommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es sind die Nichtregierungsorganisationen, die dafür Sorge tragen, dass schutzsuchende Kinder in Griechenland geimpft werden, medizinisch versorgt werden, weil der griechische Staat dies derzeit nicht leistet. Der UNHCR schätzt, dass 2 000 minderjährige unbegleitete Flüchtlinge derzeit in Griechenland sind. Es gibt aber nur 500 Plätze für diese Kinder in regulären Einrichtungen. Die restlichen Kinder werden notdürftig in Polizeistationen in Gewahrsam genommen, also inhaftiert.
In den provisorischen Lagern am Athener Flughafen ist die Lage so prekär, dass Flüchtlinge aus lauter Verzweiflung in den Hungerstreik treten. Auf Lesbos werden ohne Rechtsgrundlage Menschen, darunter auch Frauen, Kinder und Kranke, über einen unzulässig langen Zeitraum inhaftiert. Um dem zu entgehen – das haben wir gestern lesen können –, sind Menschen sogar so verzweifelt, dass sie versuchen, in die Türkei zurückzuschwimmen. Die NGOs ziehen sich aus diesen Haftlagern zurück, weil die Arbeit dort nicht mehr mit ihren Grundsätzen zu vereinbaren ist. Tausende von Menschen hängen noch auf der Balkanroute fest. Und wir sprechen hier von einer Lösung? Meine sehr verehrten Damen und Herren, das kann einfach nicht sein.