Bundestagsrede zum EU-Flüchtlingsschutz

Luises Rede in der Debatte um die Zukunft der europäischen Flüchtlingspolitik könnt Ihr hier nachschauen.

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute ist vermutlich einer der traurigsten, aber vielleicht auch wichtigsten Tage, um über die Zukunft der Europä­ischen Union zu sprechen. Ich denke mir, dass es vielen hier im Parlament ähnlich geht, wenn ich sage, dass wir heute Morgen alle einen ziemlich großen Kloß im Hals hatten, als wir von dem Ergebnis des Referendums ge­hört haben, als wir erfahren haben, dass Großbritannien die Europäische Union verlassen wird.

Mich macht es besonders betroffen, dass die Zustim­mung zu Europa unter den jüngeren Menschen besonders hoch war. Drei Viertel der unter 40-Jährigen wollten den Verbleib in der Europäischen Union. Viele von diesen jungen Europäerinnen und Europäern wollten für sich eine andere Zukunft; aber sie haben diese Abstimmung verloren.

Es stimmt mich auf der anderen Seite aber auch hoff­nungsvoll, dass gerade die jungen Menschen ihre Hoff­nung in die Europäische Union setzen. Es zeigt, welche Verantwortung wir und die Regierungen der einzelnen Mitgliedstaaten den kommenden Generationen gegen­über haben.

Auf die Fragen von heute, aber auch der Zukunft gibt es eben keine Antworten mit nationalstaatlicher Kleingeis­terei. Die Herausforderungen, die wir am dringendsten angehen müssen, sind global und kennen keine nationa­len Grenzen.

Was führt uns das besser vor Augen als die europä­ische Flüchtlingspolitik? Meine Fraktion hat sich lang und ausführlich mit dieser Frage beschäftigt, auch un­bequeme Fragen aufgegriffen, vielleicht sogar für Grüne unbequeme Antworten gefunden. Das war aber auch not­wendig; denn was uns vollkommen klar ist – das haben wir auch hier im Parlament mehrfach angemahnt –, ist, dass die Vereinbarung mit der Türkei zwar zu weniger Flüchtlingen in Europa geführt hat – manch einer von Ih­nen findet das gut –, dass sie aber mitnichten eine Lösung für und in Europa darstellt. Diese Vereinbarung hat nicht zu mehr Solidarität in Europa geführt, sondern das The­ma vor unsere Grenzen verlagert. Diese Vereinbarung trifft vor allen Dingen Schutzsuchende, die damit vor den Toren Europas stehen gelassen werden, im Stich gelassen werden. Für sie heißt es: Aus den Augen, aus dem Sinn.

Deshalb ist es für uns vollkommen unverständlich, dass die Bundesregierung diese Vereinbarung, diesen Deal als langfristige europäische Lösung verkaufen will, sogar – das macht es ganz besonders absurd – als Stär­kung der Politik der legalen Zugangswege. Wahr ist: Die Vereinbarung mit der Türkei schafft täglich neue Proble­me, nicht nur wegen der Politik eines Erdogan, der Op­positionelle wegsperren lässt, einen blutigen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt und den Staat mehr und mehr autokratisch regiert und in dessen Abhängigkeit wir uns begeben, sondern auch, weil wir wiederholt von Schüssen auf Flüchtlinge, sogar auf Flüchtlingskinder, hören, weil ein Großteil der syrischen Flüchtlingskinder dort im Land nicht beschult wird, weil die Zukunft vieler Menschen dort ungewiss ist und die Lebensverhältnisse prekär sind. Wir wissen, dass Erdogan die Rolle, die wir ihm zugeschrieben haben, nicht ewig so konditionslos weiterspielen wird.

Die Vereinbarung mit der Türkei hat aber auch dazu geführt, dass wichtige Schritte – das macht es wirklich ganz besonders dramatisch –, die Europa im vergange­nen Jahr gegangen ist und zu durchdenken angefangen hat, nicht weiterverfolgt werden. Die europäischen Hot­spots in Griechenland sind zu Haftzentren geworden. Wenn nun Frau Kollegin Lindholz im Innenausschuss behauptet, dass die Menschen in den Hotspots nicht in­haftiert werden – das habe ihr der griechische Integra­tionsminister gesagt –, dann beruhigt das vielleicht sie, mich aber nicht; denn ich war vor Ort, und ich weiß, wie die Realität dort ist. In Europa wird jetzt akzeptiert, dass Frauen, Kinder und Kranke wochen- und monatelang in­haftiert werden.

Das wussten wir auch vorher. Das gibt diesen Menschen keine Perspektive; denn das griechische Asylsystem ist nicht in der Lage, die Asylverfahren adäquat und in ab­sehbarer Zeit zu bearbeiten.

Eine europäische Umverteilung von Flüchtlingen – das ist das andere – ist nicht gelungen. Der Europäische Rat hat im September des letzten Jahres die verbindliche Umverteilung von 160 000 Flüchtlingen beschlossen. Von den rund 28 000 Schutzsuchenden, die hierbei auf Deutschland entfallen, wurden bisher – es beschämt mich wirklich, das zu sagen – keine 60 Personen umgesiedelt.

Deswegen haben wir einen Antrag gestellt; das ist ge­nau der Grund. Wir sagen: Hier fehlt ein Konzept. Die Bundesregierung hat keine Idee, wie sie auf die europä­ischen Staaten zugehen möchte, wie sie alle wieder an einen Tisch holen kann.

Wir haben in unserem Konzept dargestellt, dass le­gale Wege der richtige Weg sind, nämlich: Familienzu­sammenführung stärken, nicht abbauen; das Resettle­ment-Programm ausbauen, damit Menschen nicht den Weg über das Mittelmeer nehmen müssen. Wir wollen einen echten Seenotrettungsdienst. Wir wollen die Auf­gabe nicht von anderen Agenturen und Institutionen nebenbei erledigen lassen. Wir wollen europäische Erst­aufnahmeeinrichtungen – keine Hotspots, liebe Linke –, in denen Menschen nach ihren Zielstaatsvorstellungen befragt werden und über ihre familiären Bindungen in europäische Länder berichten können, sodass wir als Europäische Union in der Lage sind, auf der einen Seite diesen Wünschen Rechnung zu tragen, auf der anderen Seite aber auch für eine solidarische Verteilung innerhalb der Europäischen Union zu streiten.

Wir wollen, dass die Menschen bezüglich ihrer eigenen Zukunft eingebunden werden und beteiligt werden; es soll nicht durch Zwang, sondern unter Beteiligung und Information erfolgen.

Wir wollen flexible Lösungen. Wir wollen, dass die Beiträge von Staaten nicht nach Schema F funktionie­ren und daran gemessen werden. Wenn Griechenland die Verteilung von allen Flüchtlingen, die in Europa ankom­men, übernimmt und organisiert und sie im eigenen Land adäquat und menschenwürdig unterbringt, dann ist das ein starker Beitrag zur europäischen Flüchtlingspolitik. Dann braucht man am Ende des Tages nicht zu zählen, wie viele Flüchtlinge Griechenland dauerhaft aufnimmt.

Es ist auch ein eigenständiger Beitrag, wenn ein euro­päisches Land sagt: Wir bauen unser Resettlement-Pro­gramm aus. – Die europäische Verteilung wird daran gemessen, wie viele Flüchtlinge wir im Rahmen dieses Programms aufnehmen, um den Menschen zu ersparen, über das Mittelmeer zu kommen.

Es ist auch in Ordnung, wenn Deutschland am Ende sagt: Wir nehmen mehr Flüchtlinge auf als andere EU-Mitgliedstaaten. Wir, die wir diese Geschichte haben und diese Verantwortung empfinden, nehmen verhält­nismäßig mehr Flüchtlinge auf als beispielsweise Polen oder Ungarn.

Es ist auch eine große Chance für die Europäische Union, in dieser Auseinandersetzung die europäischen Institutionen wie das EASO oder die Grundrechteagen­tur zu stärken. Hier liegt auch eine große Chance, Europa dahin zu bringen, wo es wirklich wehtut, wo Menschen Europa brauchen.

Mein letzter Gedanke. – Dass es nicht leicht ist, die Verfehlungen der Vergangenheit rückgängig zu machen und alle wieder an einen Tisch zu holen, ist uns vollkom­men klar. Aber es braucht einen Plan, und vor allen Din­gen – davon ist meine Fraktion überzeugt – braucht Eu­ropa eines, nämlich Menschen, die die europäische Idee und die Solidarität verteidigen. Damit sollten wir in der Flüchtlingspolitik möglichst schnell beginnen.

Haben Sie herzlichen Dank.