Bundestagsrede zum Etat des Bundesinnenministeriums

Luise sprach für die Fraktion Bündnis 90/Grüne zum Haushaltsplan 2016 – Einzelplan Innen am 08.09.2015 über Flüchtlingspolitik (gesamte Rede hier im Plenarprotokoll zum Nachlesen).

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Luises Rede im Wortlaut:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Haushaltsdebatte – im Besonderen die Debatte über den Etat des Innenministeriums – ist nicht nur eine Debatte über Zahlen, und ich bin froh, dass sie auch in den vergangenen Minuten nicht so geführt wurde. Wir als Parlament müssen mit diesem Haushalt eine Antwort darauf geben, wie wir mit dieser historischen Aufgabe, dieser nationalen Verantwortung und Herausforderung umgehen. Diese historische Aufgabe ist eben nicht die schwarze Null, sondern die Versorgung und Aufnahme von Hunderttausenden Schutzbedürftigen in Deutschland, von Menschen, die vor Krieg und Verfolgung geflohen sind.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Was wir derzeit in Deutschland erleben – das gilt insbesondere für die Bilder von den Bahnhöfen in dieser Republik –, macht Hoffnung. Mit dieser Hilfsbereitschaft, aber auch den richtigen politischen Maßnahmen wird Deutschland in den kommenden Jahren nicht nur vielen Menschen Schutz bieten können, sondern für viele auch dauerhaft ein neues Zuhause werden können. Das höchste Gut, das wir derzeit haben, sind diese unglaubliche Hilfsbereitschaft, der Mut und das Engagement von Menschen in Deutschland. Ihnen gilt unser Dank; denn sie waren dort zur Stelle, wo der Staat versagt hat oder politische Mühlen zu langsam gemahlen haben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Hilfsbereitschaft der Menschen hängt maßgeblich davon ab, was jetzt politisch passiert. Sie hängt davon ab, ob wir es schaffen, Maßnahmen auf den Tisch zu legen, die den derzeitigen Ausnahmezustand beenden. Hier müssen wir tatsächlich über Inhalte streiten. Am Samstag hatte die Bundesregierung noch mit einer großzügigen Geste mehreren Tausend am Budapester Hauptbahnhof festsitzenden Flüchtlingen die Einreise nach Deutschland erlaubt, und schon am Sonntag präsentierte die Große Koalition einen Beschluss, der unter anderem zahlreiche restriktive Maßnahmen enthält. Maßnahmen zur Vereinfachung von Asylverfahren findet man in dem Papier nicht. Darin sehen wir, die grüne Fraktion, aber den wesentlichen Schlüssel. Frau Kollegin Högl, im Gegensatz zur SPD haben wir definiert, wie die Vereinfachung und Beschleunigung von Asylverfahren gelingen kann.

Der Beschluss vom Sonntag zeigt, dass man in vielen Punkten hinter die Vereinbarungen der vergangenen Jahre zurückfallen will. Die Residenzpflicht soll wieder ausgeweitet werden und das Sachleistungsprinzip wieder eingeführt werden. Ich frage mich: Warum eigentlich? Das Sachleistungsprinzip ist nicht nur diskriminierend, sondern es verursacht auch einen enormen bürokratischen Aufwand, genauso wie die Residenzpflicht, die sich im Übrigen aus der geplanten Verlängerung des Verbleibs in den Erstaufnahmeeinrichtungen ergibt. Dieser enorme bürokratische Aufwand ist das Letzte, was wir jetzt gebrauchen können.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Zum Vorschlag des Innenministers, den Verbleib in der Erstaufnahmeeinrichtung auf sechs Monate zu verlängern: Wieso halten Sie sich eigentlich mit solchen Vorschlägen auf, obwohl Sie wissen, dass es in der jetzigen Situation überhaupt nicht möglich ist, Flüchtlinge so lange in zentralen Aufnahmeeinrichtungen zu halten? Es ist doch eher so, dass wir die Flüchtlinge schnell auf die Kommunen verteilen, weil die Kapazitäten in den Erstaufnahmeeinrichtungen fehlen. Daran werden auch 150 000 Erstaufnahmeplätze nichts ändern. Statt die Länder damit in eine schwierige Situation zu bringen, sollte der Fokus des Innenministers endlich auf der Entlastung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge liegen. Das fällt in Ihre Zuständigkeit. Der Bearbeitungsstau von mittlerweile über einer Viertelmillion Anträgen kann nur durch Verfahrungserleichterungen beseitigt werden. Ich frage mich: Warum verwenden Sie so viel Kraft darauf, sich an Nationalitäten mit niedrigen Schutzquoten abzuarbeiten, obwohl es bei Nationalitäten mit besonders hohen Schutzquoten so viel Raum für Hilfe durch bürokratische Erleichterungen gibt? Syrien 100 Prozent, Afghanistan 78,4 Prozent, Irak 99,7 Prozent – es dauert zu lange, wenn Asylsuchende aus diesen Ländern im Durchschnitt 11 bis 18 Monate auf eine Entscheidung warten müssen. Hierauf sollte der Fokus liegen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

Um ein bisschen konkreter zu werden: Es ist Ressourcenverschwendung, wenn man alle Asylanträge von anerkannten Flüchtlingen nach drei Jahren erneut überprüft. Im zweiten Quartal dieses Jahres kam es zur Einleitung von über 3 000 Widerrufsverfahren, über 500 davon gegen anerkannte Syrer. Diese Widerrufsprüfungen binden unnötige Kapazitäten im Bundesamt und verunsichern anerkannte Flüchtlinge. Das ist doch völliger Quatsch.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Meine Fraktion ist der Auffassung, dass, um tatsächlich einen Anreiz zur Beschleunigung der Verfahren zu setzen, nach einem Jahr ein Schnitt gemacht werden sollte, dass für Asylverfahren, die nicht innerhalb eines Jahres beschieden werden, quasi eine Altfallregelung gelten sollte. Das würde das BAMF wieder voll arbeitsfähig machen und überlange Verfahren endlich beenden. Aber solche Vorschläge bleiben Sie in Ihrem Papier leider Gottes schuldig.

Bedauerlicherweise findet sich auch kein Wort im Koalitionsbeschluss zur Zukunft des Dublin-Verfahrens – auch ein wesentlicher Punkt, und das, obwohl die Bundeskanzlerin gerade gestern noch der Presse verkündet hat, dass die derzeitige europäische Flüchtlingspolitik komplett gescheitert ist. Im Übrigen sehen wir das schon seit vielen Jahren so und stimmen ihr da ausdrücklich zu. Allerdings liegt der Schlüssel auch hier in der Verkürzung von Verfahren. Wir Grünen wollen, dass die Dublin-Überstellungen neben Syrern auch für andere Staatsangehörige ausgesetzt werden. Denn wie wollen Sie bitte schön erklären, dass man Syrer nicht nach Ungarn, Italien oder Bulgarien abschieben darf, eritreische oder irakische Flüchtlinge aber schon? Das macht keinen Sinn,

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)

zumal es um die Abschiebung in ein Land geht, das Flüchtlinge interniert, kriminalisiert und demnächst mit Notstandsgesetzen und drakonischen Strafen bei illegaler Einreise reagiert.

Deshalb appelliere ich namens meiner Fraktion an Sie, die regierungstragenden Fraktionen, vor allen Dingen in den Gesprächen mit den Ländern diese Vorschläge offen zu prüfen, vielleicht auch zu konkretisieren und zu übernehmen; denn das würde tatsächlich helfen, dem BAMF wieder die Kapazitäten zu geben, die es braucht, um Asylverfahren schnell zu bearbeiten, und auch in der Perspektive – wir müssen davon ausgehen, dass in den nächsten Jahren ähnlich viele Menschen nach Deutschland kommen und Schutz suchen – mit den jetzigen Personalkapazitäten in irgendeiner Form handlungsfähig zu bleiben. Meine Kollegin Anja Hajduk hat das beschrieben. Das ist derzeit nicht absehbar. Da müssen wir dringend aktiv werden.

Herzlichen Dank.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)